Keine Frage, Sebastian Kneipp war ein ausgesprochener Menschenfreund. Ob als Seelsorger oder Naturheilkundler: Sein ganzes Leben drehte sich darum, die Sorgen und Leiden seiner Mitmenschen zu lindern. Aber auch der mahnende Zeigefinger und deutliche Worte machten ihn aus. Und was er im 19. Jahrhundert anprangerte, klingt so aktuell, als würde er unter uns leben.
Gerne hören mochte Kneipps Worte wohl schon damals nicht jede*r. Und bis heute hat sich daran wenig geändert. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, einen Moment darüber nachzudenken. Sein kritischer Blick richtete sich nämlich vor allem auf drei aus seiner Sicht problematische gesellschaftliche Verhaltensweisen: Verweichlichung, Genusssucht und Eitelkeit. Sein Rat deshalb: „Diesen drei Sünden will ich drei Tugenden entgegenstellen: Abhärtung gegen die Verweichlichung, Einfachheit gegen die Eitelkeit und Genügsamkeit gegen die Genusssucht.“ Mit diesem Umdenken, so war er überzeugt, „könnte man alle Menschen glücklich und zufrieden machen, und die soziale Frage, die keiner zu lösen imstande ist, würde von selbst gelöst sein.“
Ob dieser Dreiklang tatsächlich als gesamtgesellschaftliches Patentrezept dienen mag, bleibe an dieser Stelle offen. Aber wie sieht es mit unserem individuellen Glück aus? Was meint Kneipp mit seinen Prämissen und wie lassen sie sich in unserer heutigen Welt umsetzen?
Kneipp verfolgte mit seinem Gesundheitskonzept, das auf den fünf Elementen Wasser, Ernährung, Bewegung, Heilkräuter und Lebensordnung beruht, insbesondere ein Ziel: Er wollte die Menschen dazu bewegen, eigenverantwortlich zu handeln und präventiv etwas für ihre physische und psychische Gesundheit zu tun.
Seine Wasser-Anwendungen sorgen dafür, dass die körpereigenen Abwehr- und Heilkräfte aktiviert werden. Vor allem mit den kalten Güssen und Waschungen können wir unser Immunsystem stärken und so Infekten oder anderen Krankheiten prophylaktisch entgegenwirken. Und nicht nur das: Bei regelmäßiger Anwendung lernt unser Organismus, mit Kälte besser umzugehen; was wiederum zur Folge hat, dass wir auch resistenter reagieren, wenn andere Stressfaktoren auftauchen. Das ist das Prinzip der Abhärtung.
Genügsamkeit und Einfachheit gehen in Kneipps Lehre Hand in Hand. Dabei machte er selber deutlich, dass er durchaus „kein Puritaner“ sei. Insgesamt plädierte er dennoch dafür, bei allem Maß zu halten. Gerade beim Essen. Dabei hilft es, Mahlzeiten langsam und bewusst zu sich zu nehmen. Denn das Sättigungsgefühl tritt erst nach rund 15 Minuten ein. Und egal, wobei wir normalerweise schwach werden – ob bei Pommes, einem saftigen Steak, einem verlockenden Stück Torte oder einem Drink –, wir müssen ja nicht ganz darauf verzichten. Auch Kneipp war ein Genussmensch. Einem Glas Wein oder Bier etwa war er nicht abgeneigt. Indem wir uns in bestimmten Momenten kleine „Sünden“ gönnen, machen wir den Moment und das, was wir genießen, zu etwas Besonderem – und können uns doppelt daran freuen.
Gleiches gilt für Konsumgüter. Wir leben in einer Gesellschaft des Überflusses. Dass dies nicht selbstverständlich ist, merkten wir, als wir in Zeiten der Corona-Einschränkungen zuweilen vor leeren Regalen standen. Zwar konnten wir, als die Geschäfte schließen mussten, auf Online-Shopping zurückgreifen. Aber Hand aufs Herz: War das wirklich in jedem Fall nötig? Muss es wirklich immer mehr, immer etwas Neues sein? Weniger ist oft auch deshalb mehr, weil es uns befreit und gelassener macht.
Und damit sind wir letztlich beim Thema Einfachheit. Was Kneipp schon vor über 150 Jahren als erstrebenswert erachtete, wird heute – etwa durch die japanische Entrümpelungs-Meisterin Marie Kondo – zum Mega-Trend. In einer Welt, die durch ihre Komplexität überfordert, sehnen sich immer mehr Menschen nach Ordnung und möglichst einfachen Regeln. Umso mehr könnten wir uns auf Kneipp besinnen, der unter dem Aspekt der Lebensordnung die Grundlage für jegliche Gesundheit sah. Ohne inneres Gleichgewicht, ohne seelische Balance nützen alle noch so gut gemeinten gesundheitsfördernden Maßnahmen nichts, davon war er überzeugt. Dabei können wir uns selber fragen, was uns wirklich gut tut, und uns auf die wesentlichen Dinge besinnen. Diese können noch so klein und einfach sein. Alltägliche Dinge, wie sie Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Vergnügungen“ (1954) beschreibt:
„Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.“
Aus: Bertolt Brecht: Hundert Gedichte. Ausgewählt von Siegfried Unseld
Wie würde Ihre Liste der einfachen Dinge aussehen, die Sie glücklich machen?