Ein Plädoyer für die Langeweile

Wenn im Außen plötzlich weniger geschieht als gewohnt, wenn uns die Corona-Einschränkungen unserer Lieblingsfreizeitbeschäftigungen berauben, dann werden wir unweigerlich auf uns selbst zurückgeworfen. Langeweile ist für viele Menschen in der heutigen schnelllebigen Zeit kaum zu ertragen. Und doch: Wer sich auf den Prozess einlässt, kann sich auf eine spannende Entdeckungsreise begeben.

„Langeweile: der Wunsch nach Wünschen,“ so beschreibt der russische Schriftsteller Leo Tolstoi das Gefühl, das uns modernen Menschen solche Mühe bereitet. Man fühlt sich unruhig, weiß nicht, was man mit sich selbst anfangen soll. Der Griff zum Smartphone, zur TV-Fernbedienung oder zur Zigarette bietet oft eine willkommene Erlösung. Hauptsache, wir müssen nicht mit uns selbst und unseren Gedanken allein sein.

Die Wissenschaft versucht schon lange, mit immer neuen Experimenten dem Phänomen der Langeweile auf die Spur zu kommen. Eine ganze Testreihe wurde zum Beispiel an der Universität von Virginia rund um den amerikanischen Sozialpsychologen Timothy Wilson durchgeführt: In einem Versuch mussten die Probandinnen und Probanden 15 Minuten in einem leeren Raum auf einem Stuhl sitzen bleiben. Nichts war ihnen erlaubt. Außer etwas: Sie durften einen Knopf drücken, der ihnen einen Elektroschock verpasste. Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen taten dies denn auch mindestens einmal – und das, obwohl sie davor gesagt hatten, sie würden Geld dafür bezahlen, keinem Elektroschock mehr ausgesetzt zu werden. Das Bedürfnis nach einem äußeren Reiz (selbst wenn dieser Schmerz bedeutete) war also größer als die Bereitschaft, sich auf sich selbst einzulassen.

In einem anderen Versuch der Universität Waterloo zeigten James Danckert und sein Team den Probandinnen und Probanden ein langweiliges Video. Zu sehen waren zwei Männer beim Wäscheaufhängen. Wie Danckert in einem Beitrag des Deutschlandfunks sagte, waren die Versuchsteilnehmenden anfangs noch gut gelaunt und erwartungsvoll. Als aber klar war, dass nichts mehr passieren würde, kippte die Stimmung. Der kanadische Neuropsychologe sieht darin eine mögliche Erklärung: Langeweile entstehe, wenn nichts zu erwarten sei.

Hinzu kommt, dass Langeweile nicht zum Credo unserer Zeit passt. Unsere Terminkalender sind randvoll – und das gilt nicht nur für die Arbeits-, sondern genauso für die Freizeit. Der Leistungs- und Selbstoptimierungsdruck hat in alle Lebensbereiche Einzug gehalten. Höchstens im Urlaub fahren wir das Tempolevel runter, falls wir nicht von einer Sehenswürdigkeit oder Actiontour zur nächsten hetzen.

Dabei wird der Langeweile in verschiedenen Studien auch immer wieder Kreativitätspotenzial zugeschrieben: Zum Beispiel zeigen sich Menschen in Tests nach dem Erledigen einer langweiligen Aufgabe außerordentlich kreativ, etwa im Finden von Lösungen. Und der Bildungspsychologe Thomas Götz von der Universität Wien plädiert dafür, zwischen verschiedene Arten von Langeweile zu unterscheiden. Demnach muss Langeweile auch nicht zwingend als negativ empfunden werden.

Wie wäre es also, Momente in dieser Corona-Krise, die uns Langeweile bescheren, nicht mit Ablenkungen zu füllen, sondern bewusst zu nutzen, um in uns zu gehen? Uns einzulassen auf ein ungewohntes Gefühl und zu sehen, was geschieht? Wenn keine Reize von außen kommen, die uns stimulieren, auf welche Reise führt uns unser Gehirn dann? Welche Gedanken tauchen plötzlich aus dem Nichts auf?

Oder, um auf Tolstoi zurückzukommen: Wenn Langeweile der Wunsch nach Wünschen ist. Wieso nicht seinen Wünschen nachspüren?

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